Wenn ein neues Adventure aus dem Hause Lexis Numerique vor der Tür steht, kann man davon ausgehen, es mit einem ungewöhnlichen Produkt zu tun zu haben. Schon die virtuelle Mörderjagd in 'In Memoriam 1 und 2' sprengte gängige Genrekonventionen und nun folgt also das von Daedalic und Xider vertriebene 'Experience 112'. Ob Innovationen dabei automatisch mit hoher spielerischer Qualität gleichzusetzen sind und ob wir es hier wirklich mit einer Erfahrung der besonderen Art zu tun haben, versuchen wir in unserem Test zu beantworten.
Gestrandet an der Pazifikküste
Ein gestrandetes Schiff an einer Pazifikküste - Über eine Kamera verfolgen wir wie eine junge Frau aus ihrer Ohnmacht erwacht. Irgendetwas mysteriöses muss auf diesem Schiff vor sich gegangen sein, bis auf die junge Frau wirkt es verlassen, dafür haben seltsam anmutende Pflanzen begonnen das Schiff zu bewuchern. Die junge Frau entdeckt die Kamera über die wir sie beobachten, sie stellt sich uns als Wissenschaftlerin Lea Nichols vor. Schnell haben wir uns als Leas einzige Unterstützung herausgestellt und versuchen ihr zu helfen, zu entschlüsseln was auf diesem Schiff vor sich gegangen ist.
Schon bald stoßen wir auf wissenschaftliche Experimente, die sich mit einer seit Urzeiten vergessenen Spezies auseinandersetzten: Den geheimnisvollen Tyriaden. Außerdem finden wir Spuren die auf eine mysteriöse Sekte hindeuten. Könnte es das Ziel dieser Sekte sein, zu verhindern dass die Forschungsergebnisse der Wissenschaftler jemals den Pazifik verlassen? Und was hat es mit dem geheimnisvollen Tyriadensekret auf sich, das ein Schlüssel des ganzen zu sein scheint? Eine befremdlich, faszinierende Forschungsreise beginnt...
Now that it's 1984...
Nachdem Lea aufgewacht ist und die Überwachungskamera sieht, spricht sie uns direkt an. Hätten wir Zugriff auf das komplette Sicherheitssystem des Schiffes könnten wir Leas stumme Hilfe sein. Nun nichts einfacher als das. Nachdem Lea uns ihre Zugangsdaten zum System verrät, macht sie uns mit einigen Grundlegenden Funktionen vertraut. Auf einer Übersichtskarte des ganzen Schiffes, können wir in beliebigen Räumen Kameras aktivieren und Lichtschalter betätigen. Wir einigen uns mit Lea darauf, dass sie dorthin geht, wo wir einen Lichtschalter aktivieren. So folgen wir der attraktiven Forscherin dabei, wie sie sich in Echtzeit von Raum zu Raum bewegt, indem wir ihr per Licht den Weg angeben. Optisch verfolgen wir Lea indem wir auf der Übersichtskarte die entsprechenden Kameras aktivieren. Diese können wir entweder völlig frei bewegen, oder auf eine Autoverfolgungsfunktion umstellen.
Im Laufe des Spiels findet Lea diverse Upgrades für das Kamerasystem, mit denen wir dann zum Beispiel auch in eine Wärmesicht schalten können, eine Zoomfunktion zur Verfügung haben oder eine Schärfefunktion verwenden können. Stößt Lea in einem entsprechenden Raum auf etwas interessantes, kümmert sie sich oft von alleine darum und gibt uns bereits neue Anweisungen durch, die wir in einem Fenster unter Ziele noch mal begutachten können. Manch anderes Mal muss man Lea aber erstmal zu Objekten hinlotsen, damit sie sich mit ihnen auseinander setzt. Dadurch dass wir keinen Sprachkontakt haben, gibt es gelegentlich Wege, Lea vehement auf eine bestimmte Handlung hinzuweisen. So lassen wir beispielsweise in einem Raum mehrmals das Telefon klingeln, damit sie begreift, dass es etwas bestimmtes gibt, das sie in diesem Raum tun soll. Generell ist es nicht immer logisch, wenn Lea manche Dinge im Alleingang erledigt, andere – nicht minder offensichtliche - erst auf Hinweis erledigt. Aber um auf die Fortbewegung zurück zu kommen. Lea bewegt sich quälend langsam von Punkt A zu Punkt B. Müssten wir dabei nicht stets einen Lichtschalter nach dem anderen anknipsen, so könnte man zwischendurch auch mal gut ein Buch zur Hand nehmen, um sich die viele Wartezeit zu vertreiben.
Besonders ärgerlich: Wenn man festgestellt hat, dass man an einem weiter entfernten Punkt des Schiffes etwas vergessen haben könnte, vergehen so einige Minuten bis man endlich am gewünschten Ort angekommen ist. Nicht selten geht bei dieser indirekten Steuerung auch mal die Übersicht verloren, zumal auch das gesamte Interface mit seinen etlichen – sich beim öffnen überlappenden – Fenstern mitunter etwas chaotisch wirkt. So haben wir neben maximal drei aktivierten Kamerafenstern und der Übersichtskarte noch diverse andere Fenster, wie zum Beispiel die persönlichen Daten der Teammitglieder geöffnet.
Doch im Laufe des Spieles wird es auch die Gelegenheit geben, aktiv die Steuerung zu übernehmen- In Form eines U-Boot ähnlichen Tauchzellenabschnittes. Kurioserweise ist diese Form der direkten Steuerung noch umständlicher als die sonstige Steuerung. Ich kann mich nicht an viele Adventures erinnern, bei denen ich beim spielen in ein lautstarkes Fluchkonzert ausgebrochen bin, aber dieser Abschnitt ist wirklich eine Belastungsprobe für jegliches Nervenkostüm.
Ist das alles?
Das Gameplay besteht natürlich nicht ausschließlich darin, Lea mühselig über das Schiff zu lotsen (Im letzten Abschnitt gibt es im übrigen noch eine andere Location zu ergründen) oder die Tauchzellensequenz zu ertragen. Im Laufe des Spiels erfahren wir etliche Passwörter, die uns Zugriff auf die Dokumente der Bordcrew verschaffen. Neben E-Mails und Memos können wir hier auch gelegentlich Audio oder Videoaufnahmen bewundern, die Stück für Stück mehr von den Geheimnisumwitterten Experimenten offenbaren. Und genau hier liegt die vielleicht größte Stärke des Spiels. Die Unmengen an Text erschaffen eine Form von Spannung und Interaktion die ich in der Form wohl noch kaum gesehen habe. Man fühlt sich wirklich als heimlicher Teil des Ganzen und die Fragen die sich dem Spieler stellen, sind von zu quälend, spannender Natur als dass man aufhören könnte weiterzuspielen. Wie ein gutes Buch webt 'Experience 112' eine Mysterygeschichte zum völligen darin versinken. Leider fällt dieses Niveau zum Ende hin aber sehr deutlich ab, so dass man das Gefühl hat, es trotz aller inhaltlichen Qualität mit einer brillanten aber letztlich unausgegorenen Plotidee zu tun zu haben.
Was die Rätsel angeht, so gibt es nicht wirklich viele klassische Adventurerätsel. Mal müssen wir Codes entschlüsseln, einen Roboter steuern um einen Gegenstand aus einem Raum zu bergen, den Lea nicht betreten kann, oder eine Bombe entschärfen. Das Hauptaugenmerk liegt allerdings ganz klar auf dem lesen von Dokumenten und der Interaktion mit Lea. Wenn wir mal nicht mehr genau wissen, was wir als nächstes zu tun haben, können wir per Hilfefunktion erfragen, welcher Schritt als nächstes von uns verlangt wird. Konkrete Lösungshinweise verbergen sich hinter dieser Funktion allerdings nicht.
Zwischen Tristesse und Hollywood
Die Grafik des Spiels wirkt mitunter recht trist und ist - auch in der höchsten Auflösung- nicht unbedingt eine Augenweise. Andererseits passen die kalten, leblosen Texturen zur leicht depressiven Atmosphäre, so dass sie als Mittel zum Zweck funktionieren. Vielleicht nicht optisch beeindruckend, aber sehr atmosphärisch stimmig kommt das neblige, Pflanzenbewuchterte Außendeck daher. Ein paar weniger Ecken und Kanten, hätten es dennoch gerne sein können. Gelegentlich kam es beim Test es auch mal zu leichten Performanceschwankungen, obwohl der Testrechner deutlich über den Empfehlungen liegt.
Eine angemessene Hardware sollte der Spieler also schon sein Eigen nennen, ansonsten droht noch größerer Frust als ohnehin schon vorhanden. Für schwächere Rechner gibt es allerdings zumindest die Option, die Kamerafenster zu verkleinern, auch wenn dies immer noch keine Garantie für eine flüssige Performance darstellt. Sehr gut gefallen haben mir die vorgerenderten Cutscenes, die sich oft um plötzlich auftauchende Erinnerungen Leas´ drehen. Diese Cutscenes runden den Eindruck ab, es hier mehr mit einem Werk aus Hollywood, als einem klassischen Adventure zu tun zu haben und diese Szenen dienen als weiterer Beleg, mit was für einer erstklassigen Inszenierung wir es hier über lange Strecken zu tun haben.
Eine Stimme zum verlieben
Was den Sound angeht, haben Lexis Numerique erstklassige Arbeit abgeliefert. Unheilsvoll verstärken die Hintergrundgeräusche ein Gefühl der Beklemmung und bilden einen wichtigen Bestandteil der sehr gelungenen Atmosphäre. Die dezent eingesetzten Musikstücke tun ihr übriges dazu. Die faszinierenden sphärischen Klänge und die treibenden elektronischen Stücke passen perfekt zu Atmosphäre und Inhalt und sind von absolut hochwertiger Natur. Ein kleines Manko dabei ist die Tatsache, dass die Musik im Spiel selbst keinen gescripteten Ereignissen folgt, so dass sie nach zufälligem Muster ertönt und gerne auch mal die Sprachausgabe so deutlich übertönt, dass es schwer fällt Lea zu verstehen.
Generell hätte es gerne mehr von der sehr guten Musik geben können, aber das sind soundtechnische Beschwerden auf höchstem Niveau und damit verschmerzbar. Die Synchronstimme von Lea Nichols – die Fans der TV Serie Lost als Sprecherin der Serienfigur Kate wieder erkennen werden- rundet das starke Soundgerüst wundervoll ab. Selten habe ich eine so gut vertonte Figur in einem Adventure erlebt- Bei solch einer wohlklingenden weiblichen Stimme kann der männliche Spieler gar nicht anders, als Lea bei ihrer Aufgabe zu unterstützen und für die weiblichen Spieler bleibt zumindest der Sympathiebonus, den Leas Stimme vom ersten Moment an so oder so gewinnt. Exzellent wird durch Leas Stimme eine Lebensnahe Person geschaffen, die nicht gekünstelt wirkt. Es gibt nicht viele Titel, in denen ein Spiel so von der gelungenen Vertonung einer Hauptfigur profitiert hat, wie in diesem Falle. Das Spielkonzept basiert zu einem Großteil darauf, eine Beziehung zwischen Lea und dem unsichtbaren Spieler herzustellen. Mit einer schlechten Synchronstimme hätte dieser Punkt furchtbar daneben gehen können, so aber geht das Konzept wunderbar auf. Die wenigen anderen Sprecher gehen in Ordnung, ohne dabei sonderlich herauszustechen.
Irgendwie anders
Anders als alles bisher da gewesene ist 'Experience 112' in jedem Falle. Für dieses Spiel gilt was neben Spielen wie 'Gabriel Knight' , 'Fahrenheit' oder 'The longest journey' nicht viele Spiele von sich behaupten können: Es handelt sich um ein Spiel mit einem echten künstlerischen Ansatz. Auch wenn es sein Potenzial nicht in dem Maße ausnutzt, den oben genannten Titeln eine Gefahr zu sein, so stellt es doch eine ernsthafte Alternative zum „Massenmarkt“ dar.
Wer es also leid ist, sich mit Klischeebeladenen Peinlichkeiten wie Sunny Blonde auseinanderzusetzen und Wert auf anspruchsvolle Inhalte legt, sollte zumindest einen Blick riskieren. Auch wenn mich das Endprodukt am Ende mit einem etwas faden Beigeschmack zurücklässt, gebührt Lexis Numerique und Publisher Daedalic/Xider großer Respekt sich solch eines Projektes anzunehmen, da innovative Spiele – fernab von Genres -, traditionell leider nach wie vor, wie Blei im Regal liegen bleiben.
Es fällt nicht leicht einem Spiel wie 'Experience 112' Wertungstechnisch gerecht zu werden. Das Gameplay fordert dem Spieler sehr viel Geduld und Zähigkeit ab. So spannend und brillant der Inhalt allerdings inszeniert ist, habe ich diese Geduld über lange Zeit sehr gerne aufgebracht. Stück für Stück erfahren wir Details über die Vorgänge und Experimente auf dem Schiff. Der Plot hatte mich viel zu sehr gepackt, als das ich mich über das anstrengende Gameplay großartig hätte aufregen können. Nur leider muss ich hier den Konjunktiv einbauen, denn umso mehr es auf das Ende zuging, desto hanebüchener wurde das Gameplay und mein Wille sich auf die Story einzulassen sank in beängstigend niedrige Regionen. Auch die Endsequenz verpasst die Chance, die über lange Zeit fantastische Story zu einem würdigen Abschluss zu bringen. So wird das Spiel sich am Ende leider selbst nicht mehr gerecht und das enorme Potenzial verpufft am Ende relativ belanglos. Die Steuerung des Spiels per Kameras und Lichtschaltern ist leider recht umständlich, bisweilen sehr unübersichtlich und dennoch gewöhnt man sich an sie.
Sobald es dann aber an die Tauchzellensequenz geht und wir auch mal direkt steuern können, wird es noch umständlicher und man fragt sich ob Lexis Numerique von ihren Kunden gewisse masochistische Tendenzen voraussetzen. Und dennoch ist 'Experience 112' für anspruchsvolle Spieler, die vollends bereits sind das Gameplay zu "ertragen" eine faszinierende Reise, die in der Form einmalig ist. Unschlüssige Spieler sollten unbedingt die Demo anspielen und sich vor dem Kauf mit dem Spielsystem auseinandersetzen, denn so begeistert der Eine sein mag, so entsetzt mag der Andere sein.
Was für mich bleibt ist ein Spiel, das mich inhaltlich über große Strecken sehr begeistert hat, über eine großartige Vertonung verfügt und das für mich ohne das schwache letzte Viertel und mit etwas weniger frustrierendem Gameplay, das Zeug zu einem Hit gehabt hätte!
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eXperience112
- Entwickler
- Lexis Numérique
- Publisher
- Daedalic
- Release
- 6. März 2008
- Trailer
- Hier ansehen • Bei Youtube ansehen
- Webseite
- http://www.experience112-game.de
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