Die letzten Jahre zeichnete sich Publisher Wadjet Eye Games und dessen Gründer Dave Gilbert durch diverse Veröffentlichungen vielversprechender Independent-Titel aus, darunter die erfolgreiche 'Blackwell'-Reihe oder 'The Shivah'. Dementsprechend gut passt auch 'Gemini Rue' in den Spielekatalog, welches ebenso wie die gerade genannten Titel mit dem Adventure Game Studio entwickelt wurde und inzwischen sogar alle bisherigen Vorverkaufszahlen des Publishers gesprengt hat. Hinter der Entwicklung steckt Joshua Nuernberger, der es mit dem Spiel im letzten Jahr sogar bis ins Finale des Student Showcase beim Independent Games Festival schaffte. Wir haben einen Blick darauf geworden, ob 'Gemini Rue' den vielen Vorschusslorbeeren gerecht wird und was Adventure-Spieler von dem Titel erwarten dürfen.
Korruption und dunkle Machenschaften im Gemini-System
Hilflos gefesselt auf einem Behandlungsstuhl inmitten eines Versuchsraums, umringt von drei Personen in weißen Kitteln und eine Menge offener Fragen. So startet 'Gemini Rue' und steckt den Spieler zu Beginn in die Haut von Delta-Six. Ist er nur ein unschuldiges Versuchskaninchen für irgendwelche Experimente? Ein Patient? Ein Insasse? Die Antworten darauf kennt Delta-Six in Folge der gerade stattfindenden Behandlung nicht einmal mehr selbst, denn zum wiederholten Male wird ihm nun schon sein Gedächtnis ausgelöscht. Das "warum" und "wieso" sind nur zwei der Dinge, die hier so manches Rätsel aufgaben. Nach den Angaben des Einrichtungsleiters, der sich stets hinter seinen Überwachungskameras und Lautsprecherdurchsagen versteckt hält, werden an diesem Ort Menschen resozialisiert, um schlussendlich wieder in die Gesellschaft eingegliedert zu werden. Die einzige Möglichkeit auf Freiheit besteht im Absolvieren mehrerer Tests und einer darauf folgenden finalen Abschlussprüfung. Doch wird Delta-Six nicht in irgendetwas geprüft, sondern im erfolgreichen Umgang mit Schusswaffen. Irgendwie eine durchaus fragwürdige Resozialisierungsmaßnahme. Und auch die anderen "Bewohner" der Einrichtung geben mit ihrem Verhalten einige Mysterien auf. Wem kann Delta-Six vertrauen und was geht in dieser Einrichtung wirklich vor sich?
Abseits des Geschehens um Delta-Six befindet sich an anderer Stelle Azriel Odin, ein ehemaliger Attentäter, der inzwischen allerdings die Seiten gewechselt hat und als Polizist einer ehrlicheren Arbeit nachgeht. Mit seinem Partner Kane Harris verfolgt er das Ziel, seinen Bruder auf dem Planeten Barracus im Gemini-System zu finden, bevor ihn die Boryokudan in die Finger bekommen. Eine Organisation, die weit abseits von Recht und Ordnung agiert. Damit diese Rettungsmission gelingt, hat sich Azriel mit seinem ehemaligen Kriegsfreund Matthius Howard an einem Treffpunkt verabredet, wo jener allerdings nicht wie vereinbart erscheint. Für Azriel noch lange kein Grund, sofort die Segel zu streichen. Und wie der Zufall so will, ist die Wohnung von Matthius nur wenige Straßen weit entfernt und derzeit der einzige Anhaltspunkt, um herauszufinden, wo sein Bruder gerade steckt. Doch auch die Boryokudan sind in dieser Gegend stark vertreten und gar nicht gut auf Leute wie Azriel zu sprechen…
Von Retro bis zu Film-Noir
Wie eingangs erwähnt, wurde 'Gemini Rue' mit dem Adventure Game Studio entwickelt. Damit setzt auch dieses Adventure, wie viele andere Spiele mit gleicher Engine zuvor, auf eine klassische und unverwechselbare Retro-Optik, die im Umkehrschluss allerdings mit einer geringeren und damit heutzutage nur noch bedingt zeitgemäßen Auflösung auskommen muss. Dennoch überzeugen die handgezeichneten Hintergründe mit einem ganz eigenen Charme, der stilistisch in eine längst vergangene Zeit der Pixelgrafik zurückversetzt und - im Rahmen der Möglichkeiten - nur selten Kritikpunkte liefert, beispielsweise wenn sich manche Hintergründe obgleich unterschiedlicher Schauplätze nur geringfügig voneinander unterscheiden. Doch abseits dessen spielt Entwickler Joshua Nuernberger mit vielen atmosphärischen Elementen wie etwa dem aufs Gemüt drückenden, plätschernden Regen, den finsteren Häusergassen und der ständigen Dunkelheit, die über jeder Szene liegt und ebenso wie das gesamte Film-Noir-Zukunftssetting für ein beklemmendes und angespanntes Ambiente sorgt.
Um diesen atmosphärischen Eindruck noch zu verstärken, darf sich Nathan Pinard in musikalischer Hinsicht austoben. Während einige Passagen des Spiels mit zurückhaltend wenig Musik alleine die Kulissen wirken lassen, setzt der gelungene Soundtrack an anderer Stelle umso eindrucksvoller ein und verstärkt die düstere Grundstimmung zusätzlich. Darüber hinaus wurden alle Charaktere des Spiels mit erfahrenen Sprechern besetzt, die auch überwiegend überzeugen können und ihre Rollen angemessen ausfüllen. Lediglich die Tonqualität der Sprachaufnahmen befindet nicht auf allerhöchstem Niveau, passt aber aufgrund dessen in gewisser Weise auch wieder gut zu dem gleichermaßen sonst vorhandenen Retro-Feeling. Ein Verständnis für die englische Sprache ist übrigens Pflicht, denn sowohl die Texte als auch die Sprachausgabe liegen ausschließlich in dieser Sprachversion vor.
Mit Füßen getreten
Nicht nur bei der Grafik, auch in Sachen Steuerung orientiert man sich an den Vorläufern heutiger Grafikadventures. Mit einem zum Standard gehörenden Linksklick wird der jeweilige Charakter durch die Umgebung gesteuert, wobei lange Laufwege zusätzlich durch die Escape-Taste abgekürzt werden können. Die Charaktersteuerung funktioniert eigentlich in weiten Teilen des Spiels ganz gut, gestaltet sich aber an mancher Stelle doch ein wenig hakelig. Wird die Maustaste über einem der verfügbaren Ausgänge gedrückt, hat das nicht auch zwangsläufig den gewünschten Szenenwechsel zur Folge. Stattdessen ist es nicht selten notwendig, die Maus noch ein kleines Stück weiter in der entsprechenden Richtung zu positionieren, damit die Aktion dann auch wirklich Früchte trägt. Daneben warten ähnliche Ungenauigkeiten auch an anderer Stelle. Wird die Hauptfigur dazu verdonnert, ein bestimmtes Objekt zu benutzen, bewegt sie sich nicht in allen Fällen selbstständig die oft nur noch wenigen Schritte bis dorthin, sondern lässt stattdessen unnötigerweise mit einem Kommentar wissen, dass sie erst noch ein wenig näher heran muss.
Damit derartige Interaktionen mit der Welt überhaupt erst möglich werden, genügt ein einfacher Rechtsklick auf einen der vorhandenen Hotspots, welche bei Mauskontakt textlich hervorgehoben werden. Daraufhin öffnet sich ein intuitives Aktionsmenü, in dem vier verschiedene Auswahlmöglichkeiten zur Verfügung stehen: Betrachten, mit der Hand benutzen, Sprechen oder mit dem Fuß benutzen. Ohne erneut auf das Aktionsmenü zurückgreifen zu müssen, ist die zuletzt ausgewählte Handlung ebenfalls bequem über einen Doppelklick erneut erreichbar. Alle diese Optionen werden mehrfach im Laufe des Spiels benötigt und angenehm in einem nahtlos in die Handlung eingeflochtenen Tutorial erläutert. Ergänzend befindet sich unterhalb des sich öffnenden Menüs das Inventar, sodass nicht nur die vier Handlungsoptionen, sondern auch diverse Gegenstände zur Interaktion mit der Umgebung eingesetzt werden können.
Sobald das Inventar erst einmal geöffnet ist, können darin befindliche Objekte mit einem weiteren Rechtsklick betrachtet werden und der ausführende Charakter beschreibt diesen mit einem kurzen Kommentar. Ist der Gegenstand sogar zur Kombination mit einem anderen, ebenfalls aus dem Inventar stammenden Objekt vorgesehen, wird die entsprechende Aktion daraufhin automatisch ausgeführt. Ein wenig umständlich ist dabei allerdings die Tatsache, dass das Inventar auch wirklich nur über einem der Hotspots geöffnet werden kann, selbst wenn dieser mit der eigentlich gewünschten Aktion überhaupt nicht in Verbindung steht. Handlicher gestaltet ist dagegen der nützliche Kommunikator von Azriel, in dem wichtige Notizen abgelegt und über den vorhandene Kontakte jederzeit angerufen werden können. Gelegentlich erfordert Azriels Recherche über den Aufenthaltsort seines Bruders auch, in den umherstehenden Terminals nach nützlichen Informationen zu suchen. Dazu können gespeicherte Erkenntnisse aus dem Kommunikator als auch Daten aus dem Terminal selbst bequem in ein Suchfeld gezogen und damit gearbeitet werden.
Gut gezielt ist halb getroffen
Bei den zu meisternden Aufgaben hat man sich bemüht, eine möglichst breite Palette unterschiedlicher Rätselvarianten anzubieten. So stolpert man neben gewöhnlichen Objektinteraktionen unter anderem auch über Dialogrätsel, Logikpuzzles, kooperative Aufgaben, bei denen auf die Hilfe anderer Charaktere zurückgegriffen wird oder kleinere Kistenschiebereien. Letzteres ist in 'Gemini Rue' allerdings weit weniger lästig, als es zunächst klingen mag. So kann eine Kiste auch nur mit den Tasten 'A' und 'D' nach links oder rechts über den Bildschirm geschoben werden. Auf diese Weise ist es dem Hauptcharakter möglich, an Regionen zu gelangen, die sonst für ihn unerreichbar wären. Da die Kisten allerdings immer direkt an der notwendigen Stelle wie auf einem Präsentierteller auf ihre Verwendung warten, wirkt der Einsatz spätestens bei der zweiten oder dritten Szene doch ein wenig arg gezwungen.
Zur größten spielerischen Glaubensfrage dürften sich allerdings die zahlreichen Action-Sequenzen mausern, denn Azriel und Delta-Six müssen mehr als nur einmal zur Waffe greifen und dabei ihr Geschick unter Beweis stellen. Diese Situationen werden an festgelegten Punkten der Handlung automatisch ausgelöst und der jeweilige Hauptcharakter sieht sich daraufhin - jedoch aus sicherer Deckung heraus - mit einem oder mehreren Gegnern konfrontiert, die ihm ans Leder wollen. Mit dem richtigem Timing muss sich der Spieler nun aus der Deckung heraus lehnen und ein paar Kugeln auf die Widersacher abfeuern, bis diese das Zeitliche gesegnet haben. Um das Vorgehen abzukürzen und schneller Nägel mit Köpfen zu machen, existiert eine zusätzliche (aber optionale) Kopfschuss-Funktion. Dabei muss der entsprechende Zeitpunkt, an dem sich ein Gegner das nächste Mal aus seiner Deckung hervorwagt, möglichst genau abgeschätzt werden, um einen punktgenauen Treffer zu landen. Darüber hinaus ist auch noch die Menge an Munition, über die der Spieler verfügt, und die Anzahl der Treffer, die der Held selbst einstecken kann, begrenzt. Erreicht die Lebensanzeige ihr unteres Ende, so ist das Spiel erst einmal vorbei und der letzte automatische Speicherstand wird geladen. Diese werden glücklicherweise rechtzeitig vor jeder brenzligen Situation angelegt. Wer sich generell bei den Schusswechseln unsicher ist, darf vor oder auch während des laufenden Spiels noch auf einen leichteren Modus setzen, der in den Optionen aktiviert werden kann. Viel ändert sich dadurch aber nicht, denn der jeweilige Charakter kann durch diese Maßnahme lediglich einige Kugeln mehr wegstecken, absolviert werden müssen die recht häufigen Actioneinlagen dennoch. Das ist darüber hinaus auch nicht die einzige Möglichkeit für ein vorzeitiges Ableben von Azriel oder Delta-Six. Vereinzelt wird der Spieler an verschiedenen Stellen unter Zeitdruck gesetzt, um etwa vor einem Feind zu flüchten oder sich vor ihm gekonnt zu verstecken. Gelingt das nicht rechtzeitig, darf (oder muss) man sich auch hier nach dem Dahinscheiden erneut an dem Problem versuchen.
Doch nicht alle Situationen, auf die man trifft, sind durchweg logisch gestaltet. Warum in einem Wartungsdurchgang zwei übergroße Stampfer aus der Decke geschossen kommen, sich der Schalter zum Deaktivieren aber nur auf einer Seite des Raumes befindet, wird wohl auf ewig das Geheimnis des inzwischen hoffentlich arbeitslosen Architekten bleiben. Ebenso ist es fraglich, wie ein Gegenstand mit den Füßen aufgehoben und mit diesem anschließend die über Kopf gefesselten Hände losgeschnitten werden können. Fernab von derartig fragwürdigen Rätseln sind die sonst gestellten Aufgaben aber meist gut in die Welt integriert und auch ansprechend fordernd, ohne sich jedoch als zu schwere Hürden zu erweisen. Während die meisten Titel von Wadjet Eye in der Vergangenheit eher kurz ausfielen, kommt 'Gemini Rue' damit immerhin auf eine mehr als beachtliche Spielzeit von circa 8 Stunden. Und wer danach noch immer nicht genug hat, dem sei ein erneutes Durchspielen mit den ebenfalls zu Verfügung stehenden Entwicklerkommentaren wärmstens ans Herz gelegt.
Die deutsche Version |
Überlegt man sich, dass dieses Spiel einst unter dem Namen 'Boryokudan Rue' als ein Studentenprojekt entstand, ist es doch sehr erfreulich, dass inzwischen jeder die Möglichkeit hat, mit Azriel und Delta-Six durch die Gegend zu ziehen. Nicht nur weckt der Titel Erinnerung an die heißgeliebten Klassik-Adventures mit der charmanten Pixelgrafik, die man einst so sehr verschlungen hat. Das reizvolle und atmosphärische Film-Noir-Setting und die von Anfang bis Ende ausgesprochen spannende Handlung machen den Titel zu einem gelungenen Abstecher ins korrupte Gemini-System. Scheiden dürften sich die Geister allerdings an den Actioneinlagen, die zwar aus dramaturgischer Sicht durchaus zu rechtfertigen sind, für meinen Geschmack aber einfach einen Tick zu häufig vorkommen. Doch trotz dieses Umstands und den Kritikpunkten bezüglich der Steuerung und manch unglaubwürdiger Szene konnte mich 'Gemini Rue' insgesamt überzeugen. Wer dem Retro-Look und einer spannenden Geschichte also etwas abgewinnen kann, sich dabei gleichzeitig nicht an den Geschicklichkeitseinlagen stört, der kann sich über ein paar Stunden fesselnde Unterhaltung freuen.
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Gemini Rue: Verschwörung auf Barracus
- Entwickler
- Joshua Nuernberger
- Publisher
- Daedalic
- Release
- 30. August 2011
- Auszeichnungen
- Überraschungs-Hit des Jahres
- Spielzeit
- 8 Stunden
- Trailer
- Hier ansehen • Bei Youtube ansehen
- Webseite
- http://www.wadjeteyegames.com/games/gemini-rue/
- Sprachen
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- Stichwörter
- Gemini Rue bei Amazon kaufen (Affiliate-Link)
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