2006 erschien 'Dreamfall'. Gedacht war es als Spin-Off zu 'The Longest Journey', einem der wohl wichtigsten Adventures der letzten Jahre. Obgleich es mit vielen Genre-Traditionen brach (u.a. 3D-Grafik, leichte Rätsel und kleine Kampfeinlagen), erfreut es sich nach wie vor hoher Beliebtheit. Allerdings haben viele Fans den norwegischen Entwicklern den Schluss ein wenig übel genommen, der gern als ziemlich herber Cliffhanger interpretiert wurde. Acht Jahre später knüpft Red Thread Games – auch dank Kickstarter-Hilfe - mit 'Dreamfall Chapters' dort an, wo 'Dreamfall' einst endete.
Ob der Fantasy-Nachfolger eine ähnliche Magie entfalten kann, nehmen wir jetzt unter die Lupe und beginnen mit der ersten Episode ('Reborn'). Sobald weitere Teile erschienen sind, ergänzen wir unseren Test entsprechend. Eine Prozentwertung gibt es erst, sobald das Spiel komplett ist.

Zwei Welten
Zwei Welten existieren im Universum dieser Adventure-Reihe parallel zueinander: die Welt der Wissenschaft (sprich unsere Welt) und Arcadia, die Welt der Magie. Verbunden sind sie durch Träume, deren Essenz jedoch durch eine finstere Macht bedroht wird. Die Konsequenzen könnten verheerend für alle sein...
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In Storytime blickt Zoë auf das komatöse Abbild ihrer selbst... |
Im letzten Abenteuer schien es, als wäre die Gefahr gebändigt. Ein Trugschluss. Erneut ruht das Schicksal der Welt auf Zoë Maya Castillos Schultern. Diese junge Frau hat die seltene Gabe, Träume formen zu können. Zuletzt lag sie jedoch Monate im Koma. Selbst in jener Zeit blieb ihr Geist aber nicht untätig und verweilte in Storytime, einer Art Zwischenwelt. Dort konnte sie Träumern dabei helfen aufzuwachen. Mehr und mehr Menschen verfallen derzeit dem Dreamer, einem Gerät, das in eine Traumwelt versetzt. Diese Technologie hat jedoch ihren Preis. Nicht wenige werden süchtig und verlieren sich selbst darin...
Zwei Hauptfiguren
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Reza bemüht sich um die Beziehung. Er weiß manchmal jedoch nicht, wie er mit seiner Freundin umgehen soll, die eine schwierige Phase durchlebt |
Selbstverständlich steckt mehr hinter all dem und die Bedrohung zieht immer weitere Kreise. Von Storytime aus ist das Problem nicht zu lösen. So kommt für unsere komatöse Heldin der Zeitpunkt selbst zu erwachen, ins altes Leben zurückzukehren. Ein Schritt, der Überwindung kostet. Was erwartet sie Zuhause?
Nach ihrer Rückkehr kann Zoë sich an nichts von dem erinnern, was sie zuvor in der surrealen Zwischenwelt erlebt hat. Sie hat keine Ahnung, was ihre Bestimmung ist, was sie tun soll. Zu Beginn ihres Erwachens – zurück in der Welt der Wissenschaft - steht daher eine schwierige und lange Selbstfindungsphase, an deren Ende hoffentlich die totale Erinnerung wartet. Ob sie ihre universitäre Ausbildung fortsetzt, oder einem anderen Job nachgeht, hängt dabei vom Spieler ab.
Mit Reza versucht sie ihr (Liebes-)Glück und die beiden ziehen ins futuristischen Propast in Europolis. Im Nachhinein vielleicht nicht die beste Wahl, denn die moderne Metropole verkommt allmählich zum korrupten Überwachungsstaat. Die Politik entzweit die Bevölkerung und unter der Oberfläche brodelt es gehörig. Die demnächst anstehende Wahl steht jedenfalls unter keinem guten Stern. Obwohl Zoë zunächst primär mit sich selbst beschäftigt ist und sich noch nicht gefunden hat, steckt sie längst tief drin im anstehenden Gewitter.
In Arcadia besuchen wir parallel dazu den Krieger Kian Alvane, der erstmals in 'Dreamfall' vorgestellt wurde. Auch er soll eine zentrale Rolle im drohenden Konflikt spielen, der die Machtverhältnisse grundlegend kippen könnte. Einst hat er gegen die Rebellen gekämpft, doch das hat ihm nicht viel gebracht, wurde er doch von den eigenen Leuten eingekerkert. Hinter Gittern wartet er auf seine Hinrichtung, doch wie durch ein Wunder verhelfen ihm ausgerechnet seine einstigen Feinde zur Flucht. Warum, das wird sich noch aufklären.
Licht und Schatten am episodischen Horizont
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Bei manchen Gesprächspartnern lohnt es sich, später erneut die Konversation zu suchen |
Ragnar Tørnquists ist bekannt für gewaltige Spielwelten. Jenes Universum, das 'The Longest Journey' zugrunde liegt, war vor rund 14 Jahren so umfangreich wie kaum ein Adventure zuvor. Das narrative MMO-RPG 'The Secret World' wiederum, setzte dem mindestens noch eins drauf.
Größer als geplant wird auch 'Dreamfall Chapters', das – aus Kosten und Zeitgründen - zersplittert in fünf Episoden erscheint. Schon 'Reborn' kann vier, fünf Stunden lang beschäftigen - sei es nun wegen der Größe der Stadt, oder weil man sich in längere Konversationen verstricken kann. Wer kein Interesse an kommunikativen und explorativen Ausschweifungen hat, ist vermutlich in drei Stunden am Ziel. Sollten die weiteren vier Teile eine ähnliche Länge aufweisen, besteht kein Grund zur Klage.
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Die einzig vernünftige Kandidatin bei der anstehenden politischen Wahl hat es nicht leicht. Zoë setzt sich für sie ein. |
'Reborn' bietet ein erstes Kennenlernen mit den Charakteren, dem Setting. Die Haupthandlung wird lediglich angeschnitten. Obwohl wesentliche Informationen zur umfangreichen Hintergrund- und Vorgeschichte rekapituliert werden, tut man gut daran, sowohl 'Dreamfall', als auch 'The Longest Journey' im Gedächtnis zu haben. Ansonsten läuft man Gefahr, dass einem in der Flut an Informationen einiges entgeht – obwohl die Erzählung ein gemächliches Tempo fährt und dem Spieler Zeit lässt. Leider ist es Red Thread Games nicht gelungen, dieser Episode einen roten Faden zu verpassen. Es ist wie der Beginn einer hervorragenden Fantasy-Geschichte, die mittendrin auf später vertagt wird.
Story hat Vorrang
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Mit diesem ungeheuer nervigen Roboter sind leider kleine Rätsel verknüpft... |
Was die spielerische Linie angeht, so bleibt abzuwarten, wohin 'Dreamfall Chapters' sich entwickelt. Von den erhofften - im Rahmen der Kickstarter-Kampagne versprochenen - Rätseln merkt man zu diesem Zeitpunkt noch nicht viel. Die wenigen Situationen die Denkarbeit erfordern, bewegen sich zudem auf einem streitbaren Niveau - seien es nun die nervigen Aufgaben rund um den defekten Roboter oder die Sache mit dem Gastgeschenk. Spaßig ist das nicht. Angesichts weniger Interaktionsmöglichkeiten, liegt die Lösung meist auf der Hand (auch wenn man zu Beginn womöglich etwas mit fehlenden Hilfestellungen zur Handhabung zu kämpfen hat). Noch dazu verirrt sich erstaunlich selten ein Objekt ins Inventar und wenn doch, dann höchstens eines. Dass das Inventar theoretisch Platz für einige Gegenstände mehr hätte und es sogar die Funktion gäbe, Dinge miteinander zu kombinieren, stimmt immerhin zuversichtlich für die Zukunft.
Inspirationen durch Quantic Dream und Telltale
Die Spielphilosophie schmeckt wie ein Mix aus den Spielen von Telltale und Quantic Dream, sowie dem Vorgänger 'Dreamfall'. Allerdings ohne Action-Einlagen und mit einer größeren Spielwelt. Die Aktionsmöglichkeiten variieren je nach Kontext: In der Traumwelt Storytime kann Zoë beispielsweise die Zeit anhalten, sowie Dinge und Personen mit der Macht ihrer Gedanken beeinflussen. In der realen Welt reicht die Palette vom Belauschen bis hin zum Essen von Risotto.
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Mischen wir uns ein, oder halten wir uns raus? Diese Frage stellt sich des öfteren. |
Mehr als Rätsel, drängen Entscheidungen in den Mittelpunkt, bei denen der Einfluss von Telltale besonders hervortritt. Von diesem Vorbild kann die skandinavische Spieleschmiede allerdings noch einiges lernen, auch wenn man mit dem Resultat zufrieden sein darf. Inwieweit die Entscheidungen tatsächlich den Verlauf der Dinge prägen werden, bleibt abzuwarten. Im Rahmen der ersten Episode gibt es durchaus ein paar Konsequenzen: So kann die Beziehung zwischen Zoë und Reza einen Knacks erhalten, oder unsere Heldin auf dem Radar eines gefürchteten Kriminellen landen und mehr. In den Konversationen wird stets darauf hingewiesen, falls der Gesprächspartner eine bestimmte Äußerung im Gedächtnis behält oder eine Entscheidung für die Balance der Macht von Bedeutung ist, was auch immer das dann zu bedeuten hat.
Red Thread Games wirkt bemüht, dem Spieler emotionale Reaktionen abzuverlangen (gehe ich auf eine Party, obwohl ich mit meinem Freund etwas anderes ausgemacht habe? Helfe ich jemandem, der gleich heftig verprügelt wird? Töte ich jemanden, der das von mir eigenartigerweise verlangt?). Das klappt vorerst allerdings nur bedingt, zumal die kritischen Entscheidungsmöglichkeiten noch nicht so polarisieren. Es ist allerdings anzunehmen, dass dieser Aspekt im weiteren Verlauf der Geschichte und mit zunehmender Vertrautheit mit den Akteuren besser funktionieren wird.
Gute 3D-Präsentation
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Die Steuerung klappt besser mit dem Gamepad, ist aber wohl durchdacht |
'Dreamfall Chapters' zählte beim Release der ersten Episode zu den bestaussehenden 3-D-Adventures der letzten Jahre. Zu bemängeln ist aber, dass die Mimik der Spielfiguren oft ausdruckslos bleibt, oder auch die Haarpracht der weiblichen Hauptfigur sich keinen Millimeter vom Fleck bewegt. An solchen Details merkt man das beschränkte Indie-Budget. An stimmungsvollen Impressionen in der Umgebung mangelt es trotzdem nicht. Der Stil des Vorgängers findet eine gekonnte Fortführung. In technischer Hinsicht gab es zu Beginn jedoch einige Kinderkrankheiten. Die Framerate hat sich erst mit dem Umstieg auf die neueste Version der Unity-Engine - Monate später - in einem vernünftigen Bereich eingependelt. Probleme können aber weiterhin auftreten.
Die Stadt Propast ist angenehm belebt und vermutlich das Highlight der ersten Episode. Ein Fluggefährt landet auf dem Hauptplatz, ein Musiker spielt vor aufmerksamen Zuhörern, Demonstranten belagern eine Absperrung, Passanten unterhalten sich über Politik... hier ist was los und es macht Spaß, frei durch die Gassen zu streifen, sich einiges von Zoë erklären zu lassen. Einziges Ärgernis war hier beim Release das Fehlen einer Übersichtskarten-Funktion, was die Orientierung unnötig erschwerte. Der 'Final Cut' des Spiels (Release: Mai 2017) wird eine solche In-Game-Karte jedoch bieten (letztes Update: April 2017).
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Die Stadt Propast sieht richtig schick und belebt aus |
Erste Sahne ist die musikalische Vertonung und die engagierte englische Sprachausgabe, die einen wunderbaren sprachlichen Fluss hat. Problematisch aus deutschsprachiger Sicht ist dafür die deutsche Lokalisierung, die manchmal ziemlich sperrig wirkt. Wichtige Rollen wurden wenigstens gut besetzt. Ärgerlich sind jedoch Fälle, wo eine weibliche Figur plötzlich eine männliche Stimme hat (Chan).
Wer kann, der sollte unbedingt die englische Fassung vorziehen. Vorzuziehen ist auch die Steuerung via Gamepad, obwohl die Handhabung via Maus und Tastatur ihren Job solide erfüllt. Als unvorteilhaft könnte sich zuletzt das Speichersystem erweisen. Zwar wird beim Verlassen des Spiels automatisch gesichert, das ist jedoch unpraktisch für den Fall, dass man unterschiedliche Entscheidungswege probieren möchte. Die Ansammlung an Speicherständen ist nämlich recht unübersichtlich.
-> Hier geht es zum Test der zweiten Episode
-> Hier geht es zum Test der dritten Episode
-> Hier geht es zum Test der vierten Episode
-> Hier geht es zum Test der finalen Episode (mit Endwertung)
Die erste Episode hat mir gut gefallen, wenngleich ich das Episoden-Format als solches schwach umgesetzt finde. Rein was Story, Atmosphäre und Exploration anbelangt, bin ich soweit aber sehr angetan, in vielen Momenten ist das großes Kino. Hat man sich einmal eingelebt, will man nicht so schnell wieder raus. Spielerisch war es für mich wiederum noch nicht so erquickend, ja, vereinzelt sogar zäh. Insbesondere bei den Rätseln hoffe ich auf Besserung. Die Größe des Inventars stimmt mich optimistisch, wenngleich ich nicht mit Kopfnüssen rechne. Eine Empfehlung für 'Dreamfall Chapters' kann ich vorerst nur insofern aussprechen, als ich Vertrauen in die Fähigkeiten von Ragnar Tørnquist und seines Teams habe. Objektiv betrachtet steht das Abenteuer noch zu sehr am Anfang, um jetzt schon den Daumen in eine Richtung zu drehen. Über die Phase der Exposition sind wir noch nicht hinausgekommen. Wer sich dennoch auf die Fantasy-Reise begeben möchte, täte so oder so gut daran, sich zuvor eingehend mit den beiden Vorgängern zu beschäftigen. Das erleichtert den Einstieg ins Geschehen ungemein.
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Dreamfall Chapters
- Entwickler
- Red Thread Games
- Publisher
- EuroVideo
- Release
- 17. Juni 2016
- Trailer
- Hier ansehen • Bei Youtube ansehen
- Webseite
- http://redthreadgames.com/games/chapters/
- Art
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Crowdfunding
- Sprachen
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- Systeme
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- Stichwörter
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