Genetische Experimente in einer postapokalyptischen Welt, dazu ein Mutant, der eigentlich nur Musik machen möchte und von einem Süßigkeiten ausspuckenden Faultier verfolgt wird, das wiederum einen Glam-Metal-Kult fördert – das via Kickstarter finanzierte Adventure 'Paradigm' von Jacob Janerka versammelt alles, was es an schrägen Ideen gibt. Ob das funktionieren kann und ob das Spiel so viel Spaß macht, wie es verspricht, haben wir uns für Euch angesehen.
Wunderkinder und Hair Metal an die Macht!
Eigentlich fängt alles ganz harmlos an: Nach einem kurzen Vorspann, in dem uns DUPA Genetics die Vorzüge von genetisch manipulierten Wunderkindern gegenüber auf herkömmlichem Weg gezeugten Kindern erklären, landen wir am Arbeitsplatz von Paradigm. Er ist eines dieser Wunderkinder, hatte aber wenig Glück: Riesige Tumore deformieren seinen Kopf. Da niemand einen Mutanten großziehen will, fristet Paradigm sein Leben in einem heruntergekommenen, Bunker-artigen Gebäude, wo er vor allem damit beschäftigt ist, seine erste EP aufzunehmen. Denn Paradigm hat einen Traum: Er will mit seiner Musik reich und berühmt werden. Zu dumm, dass sein Computer sich nicht starten lässt und nur mit Hilfe einer Floppy Disk zum Laufen gebracht werden kann.
So beginnt für Paradigm eine Reise, die mehr beinhaltet als die Suche nach einer Floppy Disk. Der liebenswerte Mutant begegnet den schrägsten Kreaturen: einer beatboxenden Aubergine, einem Drogendealer, der eigentlich keiner ist, Bodyguards aus Pappe, telepathisch veranlagten zweiköpfigen Katzen, singenden Pflanzen, einem Ritter, der sich als Sekretär verdingt, den Mitgliedern eines durchgeknallten Hair-Metal-Kultes samt einem Anführer in Gestalt eines Mopses (mit toll geföhnten Haaren, natürlich). Kurz: Immer, wenn man glaubt, jetzt geht’s nicht mehr schräger, legt Entwickler Jacob Janerka noch eins drauf, verliert dabei aber nie die Story aus den Augen, die sich um weit mehr dreht als die Floppy Disk. Im Zentrum stehen DUPA Genetics und die ursprünglichen Absichten vom verstorbenen Gründer Klas. Der hatte nämlich besondere Pläne für Paradigm, die sein selbst ernannter Nachfolger, das Süßigkeiten ausspuckende Faultier Olof mit Trump-Gedächtnis-Frisur, verhindern möchte. Dabei macht sich das Spiel en passant über alle möglichen Genre-Eigenheiten und Puzzles lustig. Es spielt mit Popkultur-Referenzen und Internet-Trends wie z.B. Katzenvideos und nimmt sich grundsätzlich so gar nicht ernst.
Mit Liebe zum Detail: Noch nie waren Mutanten so hübsch
Grafisch kann sich 'Paradigm' sehen lassen. Zwar mangelt es in den Close-ups bei Gesprächen an Lippensynchronität und Mimik. Das Spiel macht es einem aber sehr leicht, darüber hinweg zu sehen, einfach, weil mit extrem viel Liebe zum Detail gearbeitet wurde und es auf fast jedem Screen unglaublich viel zu sehen und zu untersuchen gibt. Grafik-Fetischisten werden vermutlich trotzdem keine Freude haben. Für ein Indie-Adventure wurde hier aber gute Arbeit geleistet. Dabei spielt sich Janerka mit unterschiedlichen Grafik-Stilen. So wechselt er z.B. bei einem Minispiel in Retro-Pixel-Grafik, ein anderes Minispiel orientiert sich optisch an 'Street Fighter', das dritte Minispiel wiederum erinnert an ein rundenbasiertes Strategie-Rollenspiel. Dazwischen gibt es einen kurzen Ausflug in die dritte Dimension, und die fünf Enden (von denen allerdings nur eines quasi echt ist) sind ebenfalls in unterschiedlichen Stilen gehalten. Bisweilen war das fast ein bisschen viel auf einmal. Gerade in der zweiten Spielhälfte fand ich den oft raschen Wechsel zwischen den Grafikstilen etwas übertrieben. Weniger wäre hier vielleicht mehr gewesen, gleichzeitig drückt Janerka dem Spiel so allerdings auch seinen eigenen Stempel auf.
In Sachen Sound gibt’s nichts zu meckern. Die Sprecher machen ihre Sache allesamt sehr gut; Janerka selbst spricht neben der Titelrolle gleich mehrere Rollen, teilweise mit unterschiedlichem Akzent (Paradigm selbst darf mit osteuropäischem Akzent sprechen) und in einem Spielabschnitt auch mehrsprachig. 'Paradigm' kommt derzeit mit englischer Sprachausgabe und englischen Untertiteln daher. Ob es eine deutsche Sprachausgabe geben wird, ist laut dem Entwickler vom kommerziellen Erfolg des Spieles abhängig.
Die teilweise langen Dialoge können übrigens mit einem Klick auf die rechte Maustaste übersprungen werden. Es lohnt sich, jeden Dialog anzuhören und jeden Gegenstand bzw. jede Person anzuklicken. Paradigm hat für alles und jeden einen passenden Spruch parat und sprüht nur so vor Wortwitz. Gepaart mit Sarkasmus und einer ordentlichen Dosis... nun ja, sagen wir mal, er äußert des Öfteren sein dringendes Bedürfnis nach menschlicher Nähe. Das gipfelt oft in eindeutig zweideutigen Sprüchen, die sicher nicht jedermanns Geschmack treffen. Dazu gesellen sich Wortspiele: Klickt man etwa auf die Funktion „Pick up“ im Aktionsmenü, dann hebt Paradigm nicht notwendigerweise den betreffenden Gegenstand auf, sondern startet unter Umständen einen Annäherungsversuch und baggert den Gegenstand (oder die Person) an. Janerka hat sich hier mit der Doppelbedeutung der Phrase „pick up“ gespielt, was mir tatsächlich erst nach einiger Zeit aufgefallen ist. Umso witziger fand ich das Ganze, und umso gespannter war ich bei neuen Gegenständen oder Personen, was passieren würde, wenn ich auf „Pick up“ klicke.
Musik spielt ebenfalls eine wichtige Rolle – logisch, geht es doch um einen angehenden Musiker. Das Spektrum reicht dabei von Beatbox über 80er-Jahre-Synthesizer bis hin zu Hair Metal, aber auch neutralere Musikstücke, die das jeweilige Ambiente unterstreichen, sind zu hören. Dazu gesellen sich Hintergrundgeräusche wie Vogelgezwitscher, gluckerndes Wasser oder Windböen, je nachdem, wo man sich gerade befindet. Im Verlauf des Spiels hat man außerdem die Möglichkeit, selbst für Hintergrundmusik zu sorgen, etwa, indem man Musikkassetten einsammelt und diese über ein tragbares Gerät abspielt oder indem man das Radio einschaltet. Auch die singenden Pflanzen, die beatboxende Aubergine und ein Kühlschrank (!) können dazu benutzt werden, um Musik zu machen. Auch hier hat Janerka sich offensichtlich gedacht: Klotzen, nicht kleckern. Anders gesagt: An manchen Stellen übertreibt er, wenn auch nicht so stark wie bei der Grafik.
Das ist kein Puzzle!
'Paradigm' ist vieles, aber sicher kein schwieriges Spiel. Zu Beginn kann man einen von drei Schwierigkeitsgraden wählen; ich habe mich für Option 3, „Für den erfahrenen Adventure-Spieler“, entschieden. Dadurch entfällt die Hotspot-Anzeige und das Hint-System in Form eines sprechenden Tumors, der einen zu Beginn durch ein kurzes Tutorial führt. Sowohl Hotspot-Anzeige als auch Hint-System kann man jederzeit zuschalten, sollte man wirklich mal hängen. Allerdings gibt einem Paradigm selbst genügend Hinweise, was als nächstes zu tun ist, sodass man in der Regel auch ohne Hilfe weiterkommt.
Die Rätsel sind, da stark inventarbasiert, wenig abwechslungsreich, machen aber trotzdem Spaß. Meistens geht es darum, einen bestimmten Gegenstand zu ergattern, um ihn später einsetzen zu können. Hin und wieder muss eine andere Figur abgelenkt oder getäuscht werden, was in der Regel sehr einfach ist. Es gibt einige einfache Minispiele zu bewältigen, die gleichzeitig eine Hommage des Entwicklers an andere Genres darstellen. So wird etwa das aus 'Monkey Island' bekannte Beleidigungsfechten umgedreht: Um einen Gegner zu besiegen, muss man ihm Komplimente machen, um sein Selbstvertrauen zu stärken, das Ganze in einem 'Street Fighter'-ähnlichen Setting.
Komplexe Rätselketten gibt es nicht. Zwar erfordern es manche Aufgaben, dass man von A nach B und über C wieder zurück nach A läuft. Viel Zeit nimmt das aber nicht in Anspruch, vor allem, wenn man sich einigermaßen gemerkt hat, in welchem Raum was ist und wo unter Umständen noch etwas zu tun sein könnte. So finden wir anfangs in einem Gang ein Bein, das wir später beschaffen müssen. Dazu müssen wir aber erst in mindestens zwei andere Räume und einen bestimmten Gegenstand organisieren, um an das Bein heranzukommen.
Der Großteil der Aufgaben besteht darin, Gegenstände richtig miteinander oder mit der jeweiligen Umgebung zu kombinieren. In ein, zwei Fällen ist Timing von Bedeutung, stressig wird es aber nie. Dazu sind die Aufgaben allesamt logisch. Ihre Lösung ergibt sich teilweise auch aus den zuvor geführten Gesprächen. In einem Fall bietet das Spiel die Möglichkeit, das Rätsel zu überspringen. Dazu muss man allerdings 10.000-mal auf einen roten Knopf klicken. Kein Witz. Alles, was man davon hat, ist, dass einem eine wirklich nett gemachte Rätselkette entgeht. Und es gibt ein Steam-Achievement dafür, das passenderweise „Karpaltunnel“ benannt ist. Mit der Rätselkette ist man deutlich schneller durch. Außerdem: Wie oft hat man schon die Gelegenheit, mit einem Wasserboiler zu sprechen, der sich doch nur eine Familie wünscht?
In Sachen Gameplay hält es Janerka klassisch: Wir benötigen nur die Maus, um Paradigm durch die unterschiedlichen Räume zu scheuchen. Mit rechtem Mausklick auf einen Gegenstand öffnet sich ein Menü in Form einer Kassette, die uns vier Optionen bietet: Ansehen, Reden, Benutzen, Aufheben. Diese Aktionen werden mit der linken Maustaste ausgeführt. Auch für die Verbindung von Inventargegenständen miteinander bzw. mit etwas in der Umgebung benötigen wir die linke Maustaste. Bewegt man den Cursor in Form einer Hand an den oberen Bildschirmrand, dann erscheint eine Menüleiste mit Inventar, Schnellreise-Karte, Speichern/Laden und allgemeinem Menü. Den bereits erwähnten sprechenden Tumor kann man aktivieren, indem man die Maus in die rechte obere Bildschirmecke bewegt.
'Paradigm' ist eines der schrägsten Spiele, die mir bislang untergekommen sind. Das Spiel glänzt mit einem liebenswürdigen Protagonisten, den man auf Anhieb mag. Dazu kommen jede Menge abgedrehte Storyelemente, gepaart mit skurrilen Charakteren und liebevollen Details. Schaut man sich z. B. in einem Raum die Computerbildschirme im Hintergrund genauer an, entdeckt man einen Hilferuf von jemandem, der im Computer gefangen ist. Eine Fülle von Popkultur-Referenzen und eine nicht zu übersehende Liebe zu den 80er Jahren sowie klassischen Adventure-Spielen tragen das Ihre dazu bei, eine ganz eigene Spielatmosphäre zu schaffen. Drei Schwierigkeitsgrade und eine intuitive Steuerung sollten es auch absoluten Neulingen ermöglichen, in das Spiel hineinzufinden. Allerdings ist das Ausmaß an Überdrehtheit sicher nicht jedermanns Geschmack. Ich mag ja diese Art von Humor, aber selbst ich hatte nach einigen Stunden einen Punkt erreicht, an dem ich gemerkt hab: Das ist mir jetzt eine Spur zu viel. Ich konnte mich auch des Eindrucks nicht erwehren, dass Janerka jede Idee – aber auch wirklich jede – unbedingt unterbringen wollte, und sei sie noch so schräg. In Summe hat mich 'Paradigm' aber gut acht Stunden lang gut unterhalten.
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Paradigm
- Entwickler
- Jacob Janerka
- Publisher
- Jacob Janerka
- Release
- 5. April 2017
- Trailer
- Hier ansehen • Bei Youtube ansehen
- Webseite
- https://www.paradigmadventure.com/
- Sprachen
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- Systeme
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- Stichwörter
- Paradigm im Humble Store kaufen (Affiliate-Link)
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