Der australische Publisher Fellow Traveller (früher Surprise Attack) ist seit 'Hacknet', ‘Orwell‘ und ihrer hauseigenen Ludonarracon (wieder von 23.-26. April) ein respektabler Indie-Publisher. Mit dem New Yorker Studio Feral Cat Den haben sie sich mit 'Genesis Noir' ein Spiel ins Portfolio geholt, das nicht nur mit einem außergewöhnlichen Grafik-Stil auffiel. In einer Reise durch Zeit und Raum schlüpfen wir in die Rolle von Niemand ("No Man"), ein Uhren-Straßenverkäufer. Er landet ungewollt in einer Dreiecksbeziehung, die tödlich endet: Ein Mordfall ist aufzuklären. Nebenbei geht es dann auch noch um kosmische Wesen, den Urknall und Paralleldimensionen. Verrückt, oder? Da das Spiel derzeit auch in Microsofts Games Pass zu haben ist, ist es umso mehr ein Anlass dem Spiel auf dem Zahn zu fühlen: Los geht’s.
Der Urknall aus der Pistole
Es beginnt damit, dass 'Genesis Noir' uns erklärt, dass wir nur eine Handvoll Dimensionen wahrnehmen können – nur ein Fünftel derer, die die Raum-Zeit-Mannigfaltigkeit ausmacht. Ja, so kompliziert. Deswegen stellen wir uns das vereinfacht als übernatürliche Welt vor, die im Spiel als "Konstante" eingeführt wird. Genau da stecken wir drin und sind wortwörtlich Niemand. Er ist ein Uhrenverkäufer, der an der Straßenecke zum Diner und zum Constant Club unzählige Uhren an der Mantelinnenseite trägt und sie Passanten verkauft. Am Heimweg sehen wir eine Frau, im ersten Stock, in die er sich verliebt. Zu Hause findet er ihre Telefonnummer, ahnungslos, wie die hierher kam. Nach kurzem Anruf besucht Niemand sie, um ihren Saxophonisten zu sehen, wie er sie erschießt. Die Zeit steht still. Das ist auch hier wieder wortwörtlich der Fall. Niemand will das rückgängig machen: Immerhin gibt es doch Paralleldimensionen. Das alles klingt bizarr, ist aber erst der Anfang des Sturzes in den Kaninchenbau.
Visueller Genuss – auch bei den Rätseln
Der Name ist Programm in 'Genesis Noir'. Die meisten Szenen sind Schwarz-weiß oder in anderen Grautönen gehalten. Ähnlich dem Logo werden wichtige Texteinblendungen oder einzelne Elemente in Gold hervorgehoben. Die in Strichen stilisierten Figuren, Räume und Objekte sind jedoch dreidimensional. Man kann die Kamera beschränkt drehen oder bewegen und die Figur auch entsprechend steuern – mit Gamepad, Maus oder Cursortasten. Die Optik wirkt auf Screenshots somit recht simpel, ist aber in einzelnen Szenen und vor allem in Bewegung ein echter Augenschmaus.
Dazu kommen Rätsel, die stets in der Umgebung eingebettet sind, sie beeinflussen oder gar völlig umgestalten. Ein Beispiel: Nach dem Einpflanzen eines Samens müssen wir die Pflanze zum Wachsen bringen. Das machen wir, indem wir einfach den Horizont schnappen und ihn drehen. Dadurch wechselt es von Tag zu nach – wie eine Blatt Papier, das wie eine Drehscheibe im Hintergrund an einer Nadel angebracht ist. Solche Spielereien mit Perspektiven und Spielereien mit Astrophysik sind an der Tagesordnung. Im Laufe des Spiels nutzen wir auch schwarze Löcher oder Teilchenbeschleuniger als Rätselelement. Dabei ist nichts zu schwer, aber jedes Rätsel wirkt einzigartig. Das oben angesprochene Einpflanzen müssen wir mehrfach machen. Das ist genauso jedes Mal anders zu lösen. Die Vielfalt und der Einfallsreichtum lassen sich mit einem Wort beschreiben: Großartig!
Mehr als das: Audiovisueller Genuss
'Genesis Noir': Das „Noir“ kommt nicht von irgendwoher. Natürlich wird das ganze Spiel von gut klingendem Jazz begleitet. Hier zeigt sich aber wieder, wie sehr Feral Cat Den Präsentation und Gameplay verschlingen. Die Musik reagiert stets auf das, was wir bzw. Niemand machen. Die Musik ist somit nicht nur wohlklingend im Hintergrund, sondern auch ernst genommener Teil des Spiels. Das ungenutzte und unterschätzte Potenzial, das Musik in Spielen haben könnte, wird stets beklagt. Genau hier wird es abermals großartig genutzt.
Die Rätsel nehmen genauso Bezug auf die Musik, denn einige Rätsel sind musikalisch zu lösen. Das reicht von einfachen Ton-Wiederholungen per Klick, die ein Bassist vorspielt, bis zur Verschmelzung von Rätsel, Klang- und Bildebene. Hier wird wiederum klar, warum Screenshots dem Spiel stets nur zum Teil gerecht werden. In 'Genesis Noir' sind das Gameplay und der Ton sowie Bild und Geschichte Teile des Ganzen, der dann erst richtig wirkt.
Philosophie trifft Urknall
Die Geschichte ist ohnehin ein spannender Fall. Sie beginnt völlig gewöhnlich mit einer Liebesgeschichte – natürlich klassisch als Dreiecksbeziehung samt Mord inszeniert. Kurz darauf vermischen sich jedoch Astrophysik dazu: Paralleldimensionen, schwarze Löcher und der Urknall werden thematisiert und ins Spiel hinein verstrickt. Genau diese Paralleldimensionen sollen wir nutzen, um den Mord zu verhindern. Je weiter wir im Adventure fortschreiten, desto philosophischer wird das Spiel. Es werden z. B. Frühere Hochkulturen beleuchtet. Genauer möchte ich jedoch nicht auf die philosophischen Hintergründe eingehen, denn das wäre ein schwerer Spoiler. Es lohnt sich jedenfalls, denn das Spiel stiftet zum Nachdenken an. Ein drittes Mal: Großartig!
Weniger großartig: Bugs
Bis hierhin hätten wir das Wertungsterritorium der 90er beschritten. Hier, aber nicht weiter! Leider hat das Spiel noch so einige Bugs. Die Steuerung ist weder per Maus noch per Gamepad richtig treffsicher. Manchmal funktioniert sie einwandfrei und fällt nicht auf. Noch im gleichen Gameplay-Element hakt es plötzlich und man fragt sich, wie man denn z. B. eine Scheibe drehen soll, wenn es Sekunden vorher noch ging und plötzlich nicht mehr. Beim Spielen ist es uns auch passiert, dass der Protagonist an Orte gelangte, wo er nicht hin sollte. Es half nur neu laden, was wiederum bedeutet, ein Kapitel von vorne zu spielen. Die sind zwar glücklicherweise nicht so lang, aber nach dem zweiten Mal, war es dann doch ärgerlich. Selbst trotz diesen teilweise Game-Breaking-Bugs bleibt 'Genesis Noir' ein Genuss. Die grob 5 Stunden Spielzeit vergehen wie im Flug.
Was? Bugs, die mich vom Weiterkommen abhalten? Ja, das muss ja dann ordentlich abgewertet werden. Ja, muss es! Wie gut 'Genesis Noir' aber insgesamt ist, zeigt, dass wir noch immer im Award-Bereich sind. Selbst mit den Bugs ist es für mich eines der besten Spielerlebnisse der letzten Jahre. Großartige Optik, umwerfender Soundtrack und außergewöhnliches Rätseldesign in einem Spiel. Dann wäre da noch die Geschichte, die Physik, Philosophie und klassische Noir-Elemente vereint. Natürlich sind diese Dinge gewöhnungsbedürftig, denn 'Genesis Noir' ist unkonventionell – sehr unkonventionell! Wer ein völlig normales Adventure erwartet, das sich so spielt, wie jedes andere, wird hier die Stirn in Falten legen. Das macht auch einen Teil des Reizes aus: Die einzelnen Kapitel sind äußerst divers und zeigen, was aus simpler Schwarz-Weiß-Optik heraus geholt werden kann. Die Ein-Klick-Steuerung heißt normalerweise ebenso wenig Komplexität. Schwer ist es auch nicht sonderlich, aber jedes Rätsel spielt sich anders und es macht Spaß sie zu erkunden. Selbst wenn man daran keine Freude findet, bleibt die unerwartet passende philosophische Geschichte. Ein letztes Mal noch: Großartig!
-
Genesis Noir
- Entwickler
- Feral Cat Den
- Publisher
- Fellow Traveller
- Release
- 25. März 2021
- Auszeichnungen
- Adventure Corner Award
- Art
-
Crowdfunding
- Sprachen
-
- Systeme
-
- Stichwörter
- Genesis Noir im Humble Store kaufen (Affiliate-Link)