Virtuelle Welten und Spiele als Vehikel zur Realitätsflucht sind ja an sich nichts Neues. Die polnischen Anshar Studios haben dem Konzept daher in ihrem Cyberpunk-Rollenspiel 'Gamedec' einen frischen Anstrich verliehen und schicken Ermittler in diese Welten, um Verbrechen, Intrigen und Verschwörungen aufzudecken. Das sowie das Versprechen, dass sich jede Entscheidung auf den Spielverlauf auswirken würde, hat uns natürlich neugierig gemacht.
Ist das alles nur ein Spiel?
Das Modell des 'homo ludens', also des spielenden Menschen, kennzeichnet das Spiel als Grundlage menschlichen Verhaltens. Unter anderem geht dieses Erklärungsmodell davon aus, dass sich der Mensch durch das Spielen abreagiert und seine kulturellen Fähigkeiten über das Spiel entwickelt. Ganz so weit gehen Anshar Studios mit 'Gamedec' zwar nicht, allerdings passen einige Aspekte des Modells fast wie die Faust aufs Auge. Denn in der Welt von 'Gamedec' ist das Spielen so normal wie das Atmen, und praktisch jede menschliche Gefühlsregung, jedes menschliche Verhalten und jede menschliche Schwäche schwappen mehr oder weniger ungefiltert in die virtuellen Welten über. Für jedes Bedürfnis und für jedes Laster gibt es das passende Spiel, das Leben vieler Menschen findet nur noch im so genannten Virtualium statt. Dem gegenüber steht das Realium, in dem die Menschen einer Arbeit nachgehen und sich mit ihren alltäglichen Problemen herumschlagen.
In Warsaw City Ende des 22. Jahrhunderts sind die Grenzen zwischen Realium und Virtualium fast nicht mehr existent, und das Leben vieler Menschen findet mehr oder weniger nur noch virtuell statt. Dazu braucht es nichts weiter als eine spezielle Liege und einen Helm, für längere Sitzungen außerdem einen Anzug und bestimmte aufputschende Drogen. Die Ausrüstung steuert die so genannte „Entkörperung“ der Spieler, deren Körper dadurch in einen Zustand versetzt werden, die der REM-Phase des Schlafes ähnelt.
Zwar eigenen sich die Spielewelten nicht zuletzt dank des breiten Angebots perfekt für die Realitätsflucht, sind aber alles andere als makellos. Denn typisch menschliche Probleme suchen auch diese Welten heim, und oft sind Trolle oder Cheater nur die Spitze des Eisbergs. Deswegen gibt es die Gamedecs – Spieler, die gleichzeitig als Detektive arbeiten. Sie ermitteln auf Auftragsbasis im jeweiligen Spiel, sammeln Informationen, können bei Bedarf in die Codes eingreifen und Glitches beheben sowie Spieler ausloggen, etwa, wenn durch eine zu lange Spiel-Session das Leben des Spielers in Gefahr ist.
Detektivarbeit im Virtualium
Im Spiel übernimmt man die Rolle eines solchen Gamedec und bekommt gleich mit dem ersten Auftrag vor Augen geführt, wie sich Entscheidungen im Virtualium auf das Realium auswirken können und umgekehrt: Geoffrey Haggis, dank seines gut dotierten Direktorenpostens Mitglied der elitären Oberschicht von Warsaw City, beauftragt uns herauszufinden, was mit seinem Sohn Fredo los ist. Der hängt nämlich seit mittlerweile vier Tagen in einem Spiel fest – welches, das müssen wir selbst herausfinden. Da eine zu lange Spieldauer die Gesundheit bzw. das Leben eines Spielers ernsthaft gefährden kann, müssen wir schnellstmöglich handeln und durch behutsame Befragung von Fredos Freund Timmy herausfinden, in welchem Spiel sich Fredo aufhalten könnte. Im Spiel selbst müssen wir dann jede Menge Gespräche führen, Indizien sammeln und Schlussfolgerungen ziehen, die am Ende auf eine finale Erkenntnis hinauslaufen. Diese müssen wir dann nur noch dem besorgten Vater mitteilen.
Das klingt sehr viel geradliniger, als es ist. Denn man kann eine Menge verpatzen, wenn man zum Beispiel Gesprächspartner vergrault, nicht alle Fakten einholt, etwas übersieht oder schlichtweg eine Schlussfolgerung zieht, die einen anderen Lösungspfad versperrt. Mir ist es beispielsweise nicht gelungen, Fredo aus dem Spiel zu befreien. Das habe ich allerdings erst kurz vor Beginn des zweiten Falls erfahren – aus den Nachrichten im Apartment des Gamedec. Der Wiederspielwert ist auf Grund der unterschiedlichen Lösungswege und Optionen entsprechend hoch – und das betrifft alle fünf Aufgaben, die wir meistern müssen.
Es bleibt übrigens nicht bei bloßen Ermittlungen im Virtualium. Auch im Realium werden wir mit mysteriösen Problemen konfrontiert, die uns schließlich ein ganzes Kapitel lang beschäftigen und die deutlich die fließenden Grenzen zwischen den beiden Welten unterstreichen. Gleichzeitig ziehen sich verschiedene Charaktere und Motive durch alle fünf Kapitel, und Handlungsstränge, die zunächst nebensächlich erscheinen, werden allmählich Teil eines großen Ganzen. Die Geschichte verdichtet sich dann zusehends und wartet mit einem Twist auf, der in seinem Grundgedanken nicht unbedingt neu ist, aber originell und vor allem überzeugend erzählt wird.
Welche Rolle darf's denn sein?
Vermarktet wird 'Gamedec' als Cyberpunk-Rollenspiel – eine Kategorisierung, die einen zu Beginn etwas verwundert, denn in den ersten beiden Fällen bekommt man vom futuristischen Setting praktisch gar nichts zu sehen, und auch die Rollenspiel-Aspekte sind nicht unbedingt auf den ersten Blick ersichtlich. Sie weichen außerdem etwas von gewohnten Rollenspiel-Mechaniken ab. Dass 'Gamedec' auch Merkmale eines Adventures aufweist, macht die Zuordnung zu einem Genre nicht unbedingt einfacher.
Bevor es losgeht, muss man einen Charakter erstellen, wobei das im Grunde nur sehr rudimentär passiert. Im Wesentlichen entscheidet man sich für einen männlichen oder weiblichen Avatar und verpasst ihm oder ihr einen Namen. Außerdem legt man fest, aus welchem Teil der Stadt der Gamedec kommt – das wirkt sich später auf Dialog- und Handlungsmöglichkeiten aus. Dasselbe gilt für den Persönlichkeitstypus, den man seinem Gamedec zuweist. Zur Wahl stehen unter anderem Hedonismus, Zielstrebigkeit, Macht, Sicherheit oder Konformität.
Dem gewählten Typus werden anschließend Punkte in vier Kategorien zugewiesen, die leider nur durch Piktogramme im Skill-System dargestellt, aber nicht wirklich erklärt werden. Weil aber jeder Kategorie unterschiedliche Eigenschaften zugeordnet sind, kann man zumindest ungefähr abschätzen, in welche Richtung es jeweils geht. So finden sich unter dem Symbol der roten Flamme Eigenschaften wie Entschlossenheit, Macht und Zielstrebigkeit, während die gelbe Glühbirne unter anderem für Inspiration und Intuition steht. Das blaue Puzzlestück wiederum symbolisiert Eigenschaften wie Logik, Genauigkeit und Prinzipientreue. Das grüne Herz schließlich umfasst Aspekte rund um Empathie und Gefühl.
Verbunden damit sind Berufswege (oder Skills), die man im Lauf des Spiels erwerben kann. Dazu benötigt man jeweils eine vorgegebene Punkteanzahl in jeder der vier Hauptkategorien. Diese Punkte erhält man wiederum durch das Vorgehen im Spiel. Zeigt sich der Gamedec im Dialog mit einem verängstigten Charakter einfühlsam, bringt das Skillpunkte in Empathie. Welche Skills wir erlernen können, hängt somit sehr stark vom Grundwesen des Gamedec und seinen Entscheidungen ab. Manche Fähigkeiten können wir daher gar nicht oder erst sehr spät erlernen. Gesteigert werden können sie nicht – ein deutlicher Unterschied zu anderen Rollenspielen, allerdings keiner, der ins Gewicht fällt oder stört. Die erworbenen Skills helfen uns in erster Linie in Gesprächen weiter sowie bei technischen Aufgaben. So können wir mit der Fähigkeit „Infotainer“ unser Gegenüber zum Sprechen bringen, indem wir so tun, als seien wir ein berühmter Blogger oder Journalist. Mit „Programmieren“ wiederum können wir zum Beispiel Hacks durchführen, als Glasmacher“ können wir den Spielcode analysieren – und „Cheater“ ist ohnehin selbsterklärend. Da man wie gesagt in einem Durchgang nie alle Fertigkeiten erlernen kann, muss man gut überlegen, wo man Schwerpunkte setzen möchte. Im Idealfall stimmen diese mit der grundlegenden Persönlichkeitsstruktur des Gamedec überein, können aber natürlich auch davon abweichen. Schließlich soll sich die Spielfigur ja auch ein wenig weiterentwickeln.
Indizien, Schlussfolgerungen, jede Menge Konsequenzen...
Das Herzstück des Gameplays sind die Ermittlungen und damit zusammenhängend die Schlussfolgerungen, die wir auf Basis der gesammelten Informationen ziehen müssen. Wie viele Informationen und Indizien wir erhalten, hängt dabei ganz von uns ab. In einem umfangreichen Kodex werden alle Informationen gesammelt. Außerdem gibt es jede Menge Hintergrundwissen zur Welt, die dadurch sehr greifbar und plastisch wird. Für die Schlussfolgerungen gibt es ein eigenes Deduktionsmenü, in dem jeder neue Hinweis angezeigt wird. Außerdem sehen wir auf einen Blick, wie viele Hinweise wir zur aktuellen Ermittlungsfrage bereits gefunden haben. Diese Anzahl ist dann ausschlaggebend für die zur Verfügung stehenden Lösungspfade. Je mehr Indizien man sammelt, umso mehr mögliche Antworten ergeben sich. Mitunter müssen wir auch während eines Gesprächs eine Schlussfolgerung ziehen, um den Dialog fortsetzen zu können.
Oft müssen wir entscheiden, welche Spur wir weiter verfolgen wollen; in der Regel gibt es mindestens zwei Optionen, später auch mal mehr. Im ersten Szenario etwa stehen wir im Zuge der Ermittlungen vor der Frage, ob wir mehr über die Trolle herausfinden möchten, die das Spiel heimsuchen. Oder wenden wir uns doch lieber der mysteriösen Gilde zu, die etwas mit dem Verschwinden Fredos zu tun haben könnte? Beides geht nicht und jeder der beiden Ermittlungsstränge hat unterschiedliche Auswirkungen. Die Grundstruktur der Hauptgeschichte bleibt dabei erhalten, erfährt aber je nach Vorgehensweise und Entscheidung bisweilen drastische Einschnitte oder Veränderungen. Unser Vorgehen hat auch Konsequenzen in der realen Welt.
Richtig und falsch sind dabei relative Kategorien, denn wie wir in einer bestimmten Situation vorgehen, liegt ganz an uns und unserem moralischen Kompass bzw. unseren Prinzipien. Die oben angesprochene Vergabe der Skillpunkte, der Background des Gamedec und seine Weiterentwicklung mit Hilfe der erlernten Fähigkeiten spielen ebenfalls eine entscheidende Rolle, wenn es darum geht, den nächsten Schritt zu planen. Denn wenn uns eine bestimmte Fähigkeit nicht zur Verfügung steht, können wir sie logischerweise nicht anwenden und haben so mitunter statt vier nur zwei Optionen zur Verfügung. Sämtliche Entscheidungen wirken sich schließlich auch auf das Ende aus. Insgesamt gibt es sechs Enden – noch ein Faktor, der den Wiederspielwert erhöht.
… und klassische Quests
Zu den Ermittlungen und Gesprächen gesellen sich schließlich noch klassische Quest-Aufgaben, die jeweils an die aktuelle Umgebung bzw. das aktuelle Spiel angepasst sind. So darf man in Harvest Time, einem Western-Szenario, typische Aufgaben erledigen, die man aus Farmer-Spielen kennt – also aussäen, ernten und die Farm ausbauen. In Knight's Code wiederum muss man sich für eine Gilde die Hacken wund laufen und unter anderem Rohstoffe sammeln oder Medaillen verdienen. Das macht alles richtig Spaß, weil die Entwickler sich die Mühe gemacht haben, jedes der Spiele im Spiel nicht nur optisch, sondern auch spielerisch individuell zu gestalten und Mechaniken einzubauen, die für das jeweilige Genre typisch sind.
Gegen Ende erwartet uns ein etwas langwieriges Labyrinth, durch das wir uns mit Hilfe von Farbcodes einen Weg bahnen müssen. Die Farben entsprechen dabei jenen der vier Hauptkategorien im Skill-System. Das hat auch einen Grund. Denn diese Kategorien repräsentieren im Labyrinth vier Aspekte, die der Reihe nach gefunden und freigeschaltet werden müssen. Sie helfen uns anschließend, an zentrale Informationen zu kommen und mit einem Gegner fertig zu werden. Das Ganze ist zwar recht gut durchdacht, spielt sich aber dank des Labyrinths etwas zähflüssig.
Gesteuert wird unser Gamedec übrigens mit der Maus, optional kann man sich auch der Tastatur bedienen. Die Steuerung via Controller soll laut Entwicklern in einem der nächsten Patches nachgereicht werden.
Sehens- und hörenswerte virtuelle Welten
Optisch ist Gamedec wirklich toll geworden. In der isometrischen Ansicht bekommen wir unseren Charakter zwar nicht im Detail zu sehen, können dafür aber die liebevoll und detailliert gestalteten Umgebungen bewundern. In Dialogen werden dann die jeweiligen Charaktere in Großaufnahme gezeigt, und auch die sehen sehr gut aus. Für die unterschiedlichen Spiele im Spiel wurden nicht nur eigene Welten kreiert, sondern auch passende Interfaces und Menüs. Im Western-Szenario beispielsweise sieht man am oberen Monitorrand, welches Level man bereits erreicht hat, wie viele Münzen man einstreifen konnte und wie viele Lootboxen sich aktuell im Inventar befinden. So erhält jede virtuelle Welt eine eigene, unverwechselbare Atmosphäre, die durch die jeweils passende Musik und sparsam, aber effektiv eingesetzte Soundeffekte unterstützt wird. In Harvest Time bekommen wir etwa ein sehr enthusiastisches „Yeehaw!“ der Spiel-KI zu hören, wenn wir auf unserer Farm eine Lootbox gefunden haben. In Knight's Code wiederum darf eine Schmiede hämmernde Geräusche von sich geben, in einer Bar gibt’s bei einer Schlägerei anfeuerndes Gejohle der Umstehenden zu hören und so weiter. Für Abwechslung ist also sowohl optisch wie auch akustisch gesorgt.
Die Sache mit der Übersetzung
Eine (englische) Sprachausgabe gibt es nur im kurzen Eröffnungsfilm. Sämtliche Dialoge müssen abgelesen werden. Das gilt selbstverständlich auch für Kodexeinträge, Skills, Hinweise und Schlussfolgerungen. In der deutschen Version gibt es dabei allerdings einen gewaltigen Haken: Die Übersetzung ist unvollständig, stellenweise gar nicht vorhanden, mitunter tauchen englische Begriffe auf, und man wird immer wieder mit dem polnischen Originaltext konfrontiert. Das beginnt leider bereits im Charaktermenü. Die grundlegenden Persönlichkeitstypen, aus denen wir für unseren Gamedec wählen müssen, wurden ebenso wenig übersetzt wie die Eigenschaften in den vier Kategorien im Skill-Menü. Während man im ersten Kapitel nur hin und wieder auf polnische Dialogzeilen und nicht übersetzte Fragen im Deduktionsmenü stößt, wird man ab Kapitel 2 geradezu damit überhäuft. Zwar arbeiten die Entwickler fieberhaft an einem entsprechenden Patch – auch für andere Sprachen – , allerdings müssen sie sich schon die Frage gefallen lassen, wie so ein grober Fehler passieren kann. Es ist natürlich grundsätzlich lobenswert, wenn Entwickler ihr Spiel in so vielen Sprachen wie möglich zur Verfügung stellen möchten. Allerdings ist weniger mitunter eben doch mehr, und bevor man sich dermaßen übernimmt, sollte man sich besser auf eine kleine Auswahl an Sprachen konzentrieren und weitere nach und nach einbetten. Die englische Version ist zum Glück praktisch fehlerlos. Es empfiehlt sich daher, bei entsprechend guten Kenntnissen auf diese zu wechseln. Ansonsten kann man nur hoffen, dass der versprochene Patch rasch zur Verfügung steht und die Probleme auch beheben kann.
Bekanntes Setting, völlig neuer Anstrich: Was auf den ersten Blick wie ein „typisches“ Cyberpunk-Setting wirkt, entpuppt sich rasch als originelle Spielidee. Nicht nur verschwimmen die Grenzen von Realium und Virtualium derart, dass es einem als Spieler zunehmend schwerfällt, die beiden Welten auseinanderzuhalten. Das Konzept des Gamedec und die dem Spiel angepassten Rollenspiel-Aspekte bringen frischen Wind ins Cyberpunk-Genre, die stringent und spannend erzählte Geschichte fesselt einen mühelos gut zehn Stunden oder mehr an den Computer. Umso bedauerlicher, dass den Entwicklern in ihrem Bestreben, ihr Werk in möglichst vielen Sprachen zur Verfügung zu stellen, grobe Fehler in der Übersetzung der Texte unterlaufen sind. Schade, denn abgesehen davon und ein paar kleinen Ungereimtheiten bzw. Logikfehlern ist 'Gamedec' wirklich gelungen und absolut empfehlenswert.
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Gamedec
- Entwickler
- Anshar Studios
- Publisher
- Anshar Studios
- Release
- 16. September 2021
- Trailer
- Hier ansehen • Bei Youtube ansehen
- Webseite
- https://gamedec.com/
- Sprachen
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- Systeme
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- Stichwörter
- Gamedec im Humble Store kaufen (Affiliate-Link)
- Gamedec im Epic Store kaufen (Affiliate-Link)
4 Kommentare
"Bildschirmtexte" Deutsch trifft es wohl eher...
Leider sehr verwirrend, das wäre toll, wenn ihr das mal updaten könntet.
Den Begriff "Sprache" verwenden wir auch deshalb für Texte, weil das ja geschriebene Sprache ist - aber danke für den Input